„Litauer sind große Euro-Enthusiasten“

Interview mit Rasa Noreikiene, Vize-Wirtschaftsministerin von Litauen

Litauen,

BWA: Seit 2004 wurden die drei Baltischen Staaten zusammen mit mehreren anderen ost- und mitteleuropäischen Staaten Mitglieder der EU. Was bedeutet das für die wirtschaftliche Entwicklung der EU?

Rasa Noreikiene: Litauen hat konstruktive Beiträge zu verschiedenen Initiativen und wichtigen Beschlüssen der EU geliefert, die ein unter anderem auf ein effektives Funktionieren des Binnenmarktes und der Wirtschaftspolitik abzielen. Dank der Solidarität und gemeinsamen Anstrengungen hat Europa wichtige Maßnahmen zur Bewältigung der Wirtschaftskrise durchgeführt. Die Baltischen Staaten sind im Angesicht der Krise entschlossen strukturelle Reformen angegangen, die darauf abzielten, die Ausgaben des öffentlichen Sektors merklich zu verringern und die Stabilität der öffentlichen Finanzen zu bewahren. Das Ergebnis: die Finanzkennzahlen gehören heute zu den besten unter den EU-Staaten. Die Wachstumszahlen von Wirtschaft und Beschäftigung sind deutlich höher als der Durchschnitt der anderen EU-Staaten und der EU selbst.

 

Rasa Noreikiene, Vize-Wirtschaftsministerin von Litauen

 

Ein weiterer, nicht weniger wichtiger, Beitrag Litauens für die EU war die reibungslose Einführung des Euro. Litauen hat ein konsequentes und beständiges Wachstum, hält sich an eine fiskale Disziplin und eine Wirtschaftspolitik, die sich an dem Einnahmen adäquaten Ausgaben orientiert und hat die Partnerschaft mit den Ländern, die diese Politik teilen – wie Deutschland, Holland oder Skandinavien – gefestigt.

Das Umfrageergebnis „Eurobarometer“ zeigt außerdem, dass Litauer große Euro-Enthusiasten sind. Im Jahre 2015 waren 85 Prozent der Bevölkerung überzeugt, dass es für ihr Land nützlich ist, EU-Mitglied-Staat zu sein. Damit ist Litauen Nummer Eins in der EU. Meiner Meinung nach ist dieser Aspekt ebenfalls von Bedeutung bei der Stärkung der EU-Identitätsfrage.

 

Wo liegen die besonderen Stärken der Wirtschaft Litauens?

Hoch erfahrene und kostengünstige Arbeitskräfte machen Litauen sehr attraktiv für kleine und mittlere Unternehmen, besonders dann, wenn spezifische technische Kompetenzen benötigt werden. Litauen bietet ferner ein erstklassiges Infrastruktur-Netzwerk und beachtliche Kompetenz und Erfahrung in der Bedienung verschiedenartiger Märkte. Wegen unserer gut entwickelten logistischen Infrastruktur und günstigen geographischen Lage kann das Land die attraktivsten logistischen Lösungen für internationale Unternehmen anbieten.

Außerdem hat Litauen den größten ICT Sektor im Baltikum mit einem hervorragenden Potential für erweiterte Auslandsgeschäfte. Mit einem weltweit führenden Breitbandausbau gilt Litauen als ein Regionalzentrum für Software und E-Governance. Litauen ist zum Beilspiel in der Europäischen Union auf Platz Eins bei der Nutzung von E-Governance-Dienstleistungen. 93 % der Finanzgeschäfte werden in Litauen über elektronisches Banking durchgeführt. Litauen hat ein blühendes Start-Up-Ökosystem, das Gründeraus verschiedensten Segmenten anzieht.

Die vielversprechendsten Sektoren für den Export von litauischen Waren und Dienstleistungen sind Chemieprodukte, Lebenswissenschaften, ICT, Holzverarbeitung und Möbel-Produktion.

Laut Geschäftsbericht des „Doing Business Report 2016“ der Weltbank steht Litauen an der zwanzigsten Stelle der 189 Weltwirtschaften und an der achten Stelle unter den EU-Mitgliedstaaten. Litauen wird besonders hoch in den Gebieten Eigentumsregistrierung (2. Platz), Durchsetzung von Verträgen (3. Platz), Aufnahme der Geschäftstätigkeit (8. Platz), Durchsetzung von Baugenehmigungen (18. Platz), Außenhandel (19. Platz) und Erhalt von Krediten (28. Platz) eingestuft. Um sogar noch bessere Bewertungen zu erreichen, plant Litauen 2016 Reformen auf den Gebieten Umwelt, Energie und Finanzen, die das Geschäftsklima weiter verbessern werden.

Wie hat sich das Russland-Embargo auf die wirtschaftliche Entwicklung Litauens ausgewirkt?

Litauen als kleiner Staat mit einer offenen Wirtschaft ist stark vom Außenhandel abhängig. Etwa ein Drittel des Bruttoinnenprodukts besteht aus Exporttätigkeit. So sank das Wachstum des Bruttoinnenprodukts wegen des Russland-Embargos im Jahre 2014 um 0,2-0,5 Prozentpunkte. Obwohl im Jahre 2015 ein niedrigeres Wachstum des Bruttoinnenprodukts im Vergleich zu 2014 zu verzeichnen war - das Bruttoinnenprodukt wuchs um 1,6 Prozent – spiegelte sich die stabile wirtschaftliche Lage Litauens in den wichtigsten wirtschaftlichen Kennzahlen, wie ausgewogene öffentliche Finanzen, steigende Arbeitslöhne, wachsende Direktinvestitionen aus dem Ausland und wachsende industrielle Produktion.

Litauen hatte immer einen signifikanten Anteil am Handel zwischen der EU und Russland, der größte Teil unseres Exports nach Russland ist der Re-Export. Diese Handelsstruktur zeigt, dass die Marktwirtschaft Russlands für unseren Transport- und Logistikbereich sehr wichtig ist. Das Russland-Embargo hatte in den letzten zwei Jahren und hat weiterhin negative Auswirkungen auf die Wirtschaft Litauens. Litauen ist vielleicht einer der Staaten, die am meisten unter dem Russland-Embargo leidet. Obwohl das Russland-Embargo die Wirtschaft des Landes dennoch nicht ernsthaft erschüttert hat, sind dessen Folgen für die Bereiche Obst und Gemüse, Fleisch, Milch- und Fleischprodukte, auch für Transportunternehmen und Händler, die sich am Re-Export der EU-Länder nach Russland beteiligen, sehr schmerzhaft.

Das von Russland eingeführte Embargo für Lebensmittelprodukte aus EU-Ländern bewirkte eine gewisse Umstellung der Exportmärkte Litauens. Litauische Unternehmen zeigten, dass sie zu Anpassungen unter schweren Bedingungen imstande sind. So wurden für den litauischen Export zum Teil ganz neue Exportmärkte eröffnet. Die Hersteller von Milchprodukten begannen z. B. nach Saudi Arabien, Vietnam und in andere, weniger bekannte Märkte zu exportieren.

 

Wo sehen Sie Potentiale für eine Zusammenarbeit zwischen litauischen und deutschen Unternehmen?

Großes Potential für Entwicklung und Festigung der beiderseitigen Zusammenarbeit zwischen litauischen und deutschen Unternehmen besteht in verschiedenen Bereichen: Handel, Investitionen, verschiedene Dienstleistungen (Transport und Logistik), Informationstechnologien und Tourismus etwa.

Deutschland ist einer der wichtigsten Wirtschaftspartner Litauens, deshalb ist Litauen konsequent bestrebt, die Handelsbeziehungen mit Deutschland zu entwickeln und zu festigen. 2015 lag Deutschland unter den 200 Handelspartnern Litauens nach Handelsumsatz auf dem dritten, nach Export auf dem vierten und nach Import auf dem zweiten Platz.

Litauische Unternehmen haben im Jahre 2015 nach Deutschland vor allem pharmakologische Waren, verschiedene Düngemittel, geräucherten Lachs, Milch, Sauersahne, Holzmöbel, Elektrogeräte, Komponenten für Elektromotoren und Generatoren, Mobiltelefone, Plastikerzeugnisse u.v.m. exportiert. Litauen hat wiederum aus Deutschland hauptsächlich Maschinen, mechanische Anlagen und deren Komponenten, Rohrnetze, Kesselanlagen, Maschinen und Lager für die Landwirtschaft, die Waldwirtschaft, den Gartenbau, die Geflügelzucht importiert.

Vielversprechende Sektoren in Litauen sind aus meiner Sicht Sektoren der Maschinenbauindustrie und andere Sektoren mit hohem Mehrwert, die z. B. in den Wertschöpfungsketten der Computertechnologie, der Laser- und wissenschaftlichen Ausrüstung, der pharmazeutischen und medizinischen Geräte oder Biotechnologien tätig sind.

In Litauen könnten Unternehmen gegründet werden, die Prototypen erzeugen, oder Unternehmen, die kleinere oder ergänzende Komponenten eines Erzeugnisses vorbereiten, bei denen schnelle, hochwertige Arbeit und schnelle Lieferung gefordert sind. Ein großes Potentialliegt auch in der Zusammenarbeit im Logistiksektor, insbesondere wenn die wichtigsten Ausfuhrmärkte des durchführenden Unternehmens skandinavische und östliche Länder sind. Litauen besitzt nicht nur ein qualitativ hochwertiges Infrastrukturnetz, sondern auch Erfahrung im Bereich der Bedienung der obengenannten Märkte.